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Titel
Zwischen Nation und Europa. Nationalmuseen als Europamedien


Autor(en)
Czerney, Sarah
Reihe
Medien und kulturelle Erinnerung 1
Erschienen
Berlin 2019: de Gruyter
Anzahl Seiten
XII, 383 S., 31 Abb.
Preis
€ 99,95; $ 114.99; £ 91.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Kaiser, School of Area Studies, Politics, History, and Literary Studies, University of Portsmouth

Noch in den 1980er-Jahren galten Geschichtsmuseen als aussterbende Institution. Danach setzte jedoch geradezu ein Museumsboom in Deutschland, Europa und weltweit ein. Je stärker der technologische Fortschritt, die wirtschaftlichen Verwerfungen und politischen Umbrüche, desto wichtiger wurden Museen erneut als Ort kollektiver Erinnerung und Orientierung. Je neuer ihre museologischen Konzepte und medialen Praktiken, umso mehr Besucher schienen solche Museen als Erlebnisorte wieder anzuziehen. Neue Museen wie das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin oder das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn wurden geplant und bestehende oft einer groß angelegten Renovierung unterzogen. Denn sie sollten zukünftig kritisch, nicht mehr affirmativ, transnational, europäisch und global ausgerichtet sein und nicht mehr nur nationale Meistererzählungen museal repräsentieren.

In welchem Maße und auf welche Art Museen in Europa inzwischen transnationaler oder europäischer arbeiten und Geschichte – oder Geschichten – anders erzählen, ist inzwischen relativ breit untersucht worden. Das gilt auch für alte und neue Museen in Ostmitteleuropa, seit dem Ende des Kalten Krieges ein besonders konfliktreiches „Schlachtfeld“ europäischer Erinnerung.1 In ihrer Dissertation, die als erster Band in der neuen, von Astrid Erll und Ansgar Nünning herausgegebenen Reihe „Medien und kulturelle Erinnerung“ erschienen ist, untersucht Sarah Czerney drei „europäisierte Nationalmuseen“: das DHM in Berlin, das Europäische Solidarność Zentrum in Danzig (ECS) und das Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (MuCEM) in Marseille.

Czerney betrachtet diese Museen aus einer eklektischen theoretischen Perspektive, die sie nach einer knappen Einleitung im zweiten Kapitel einführt, als „Europamedien“. Sie bezieht sich dabei auf verschiedene disziplinäre und konzeptionelle Ansätze aus der konstruktivistischen Museumstheorie, der Medientheorie, aus Forschungen zum kollektiven Gedächtnis und der seit den 1980er-Jahren von Historikern in Deutschland vielfach als „Geschichtspolitik“ bezeichneten und untersuchten Verhandlung vor allem der Zeitgeschichte im öffentlichen Raum.

Dieses zweite Kapitel dient auch noch der Erläuterung der genauso eklektischen Methodik. Czerney hat die drei sehr unterschiedlichen Museen nicht etwa ausgewählt, um sie miteinander zu vergleichen oder breitere Trends in der Entwicklung „europäisierter Nationalmuseen“ herauszuarbeiten. Sie untersucht sie vielmehr als eigentlich beliebig gewählte Fälle, die jeder für sich einzigartig sind. Vor allem will die Autorin diese Museen von einem bestimmten, nämlich feministischen „Standpunkt“ aus betrachten (S. 104). Sie möchte keinesfalls fragen, „weshalb etwas geäußert wurde“, sondern nur „wie es geäußert wurde“ (S. 95). Daher erscheint es Czerney ausreichend, die Motive für die Gründung oder Reorganisation (MuCEM) der Museen auf der Grundlage vor allem offizieller Quellen und der bestehenden Literatur zu beschreiben und nicht etwa weitere Interviews durchzuführen. Genauso benötigt sie für die Charakterisierung der Narrative der Dauerausstellungen keine Diskursanalyse in einem klassischen Sinne, sondern lediglich als eine „Haltung“ (S. 94). Mit dieser „Haltung“ wählt sie einzelne Sektionen oder Exponate in den Dauerausstellungen für ihre Beschreibung aus, was somit an ethnographische Feldforschung erinnert, auf die sich die Autorin in ihrer Diskussion der Methodik auch explizit bezieht.

Die drei folgenden Hauptkapitel sind jeweils einem Museum gewidmet. Die einführenden Bemerkungen zur Genese des jeweiligen Museums bzw. seiner Reorganisation gelingen Czerney kompetent auf der Grundlage der bestehenden Literatur. Die weitere Analyse konzentriert sich jeweils auf die Dauerausstellungen. Für das DHM betont Czerney mit Recht, dass es zwar von Anfang an eine europäische Kontextualisierung anstrebte; der Fokus lag jedoch effektiv darauf, die deutsche Nationalgeschichte zu erzählen, worüber es in den 1980er-Jahren auch zu großen politischen Konflikten gekommen war. Selbst nach der jüngsten Überarbeitung der Dauerausstellung bleibt der erste Raum auf die deutsche Sprache als Ursprung der späteren deutschen Nationalbewegung und Konstruktion einer Kulturnation ausgerichtet; „es läuft alles darauf hinaus, dass die in der Sprache und Kultur vereinte Nation auch territorial geeinigt wird“ (S. 135). Die Integration des Projekts „Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation“ im letzten Raum der Dauerausstellung hat neuerdings sogar die narrative Perspektive des DHM wieder stärker national verengt – genauso wie die letzte Erneuerung der Dauerausstellung des Hauses der Geschichte in Bonn europäische Bezüge zugunsten einer breiteren Darstellung der Geschichte der DDR gekürzt hat.

Das ECS in Danzig, das zwischen 2005 und 2007 von der Regierung der rechtskonservativen Partei PiS für ihre nationalkonservative Deutung der polnischen Geschichte vereinnahmt werden sollte, hat hingegen schon eine stärker europäische Ausrichtung. Nachdem die liberal-konservative Regierung unter Donald Tusk zunächst die Solidarność-Bewegung als zentralen Ausgangspunkt der Befreiung Ostmitteleuropas vom kommunistischen Joch stilisieren wollte, stellte die neue Museumsleitung ab 2010 die polnische Erfahrung in einen europäischen Kontext national unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen ein. Sie verwarf auch die absurde Idee einer Domino-Installation am Ende der Ausstellung, die in den ersten Planungen symbolisieren sollte, dass alle Veränderungen in Europa erst durch den polnischen Widerstand möglich wurden. Allerdings ist die historisch zutreffendere Sicht der Dauerausstellung inzwischen unter Beschuss durch die wieder im Amt befindliche PiS und ihre außerordentlich aggressive nationalistische Geschichtspolitik geraten, was von Czerney nicht mehr untersucht werden konnte und hier nur angedeutet wird.

Das MuCEM in Marseille hingegen hat mehrere konzeptionelle Transformationen bis zu seiner Eröffnung durchgemacht. Nachdem es einst mit einer nationalhistorisch gewachsenen Sammlung zu einem Europamuseum in Paris werden sollte, hat es sich inzwischen als Museum zum mediterranen Raum in Marseille entpuppt. „Europa ist buchstäblich aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit des Museums verschwunden“ (S. 256). Die Dauerausstellung erfüllt nunmehr andere Funktionen: die Vorteile von „diversité“ museal zu erzählen, ein „Ort der Inklusion“ (S. 276) zu sein und etablierte Sichtweisen auf Geschichte zu brechen – nicht zuletzt durch die ungewöhnliche Kombination mit dem sogenannten Jardin des migrations, in dem die Wanderungsgeschichte mediterraner Pflanzen ohne essentialistische regionale oder andere Zuschreibungen als Vorlage für ein positives Verständnis zeitgenössischer Migration dient (S. 289ff.).

Czerneys Beschreibungen der drei großen „europäisierten Nationalmuseen“ sind ein interessanter Steinbruch für die disziplinäre und interdisziplinäre Forschung zu Geschichte im Museum. Selbst für Historiker geschweige denn für Sozialwissenschaftler stellt sich jedoch unweigerlich die Frage der breiteren Relevanz einer Studie, die das zentrale analytische Problem des „Warum“ ausklammert und weder vergleichen noch generalisierende Aussagen treffen will. Einen „Standpunkt“ einzunehmen oder eine „Haltung“ zu zeigen, selbst wenn es sich um eine feministische handelt, ist möglicherweise nicht hinreichend für eine kritische Analyse. So fällt Czerney zwar mit Recht auf, dass die Danziger Narration der polnischen Heldengeschichte der Solidarność weitgehend ohne Frauen auskommt, obwohl diese durchaus wichtige Rollen in der Gewerkschaftsbewegung spielten; der Leser erfährt jedoch nichts auf Forschung Beruhendes dazu, warum das so ist. Zwar freut sich die Autorin darüber, dass das MuCEM neun Frauen aus ebenso vielen mediterranen Anrainerstaaten in den Mittelpunkt seiner Narration stellt; ihr „Standpunkt“ erlaubt ihr jedoch nicht, kritisch zu hinterfragen, warum dafür nur gebildete Frauen aus den arabischen Ländern ausgewählt wurden, die mit der Narration ihrer eigenen Praxis von „citoyenneté“ lediglich säkular-progressive französische Normen legitimieren sollen. Oder dass das MuCEM auch deshalb so geraten ist, wie es ist, weil es stark politisch motiviert die Integration maghrebinischer Migranten fördern und die Idee einer französischen Führungsrolle in der Gestaltung der EU-Beziehungen zu den arabischen Anrainerstaaten untermauern soll. Für eine solche kritische Analyse wäre es enorm wichtig, aus einer stärker soziologisch-politikwissenschaftlichen Perspektive auch die verschiedenen Akteure der Museums- und Geschichtspolitik in den Blick zu nehmen und nicht im Wesentlichen zu beschreiben, was zu sehen ist.

Anmerkung:
1 Claus Leggewie / Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.

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